Letztens war ich auf der Premiere des Films „Bei uns heißt sie Hanka – pla nas gronje jej Hanka“ von Grit Lemke, der mich sehr berührt hat. Er fragt, wer wir – die Menschen aus und in der Lausitz – eigentlich sind.
Die Regisseurin geht hier auf die dokumentarische Suche nach den eigenen Wurzeln. Lemke hatte eine sorbische Oma, ist in Hoyerswerda inmitten des Siedlungsgebietes aufgewachsen. Und doch waren die Slawen in ihrer Kindheit und Jugend kein Teil ihrer eigenen Identität, es waren immer die „anderen“, so erzählt sie es im Film.
Auch in den Neunzigern, bei uns in Burg, im Spreewald, gab es nach meiner Erinnerung nicht viel Wertschätzung für die Sorben/Wenden. „Ein wend'scher Pienak“ zu sein, bedeutete, falsch und bauernschlau immer auf seinen eigenen Vorteil bedacht zu sein. Finanzielle Förderung der Kultureinrichtungen wurde von manchen eher als ungerechtfertigte Ungleichbehandlung angesehen. Mit Prestige war jedenfalls weder die wendische Sprache, noch die wendische Identität belegt.
Bei den alten Traditionen, von Hahnrupfen bis zum Auftragen der Trachten zu preußischer Humptata-Marschmusik, verhielt sich das etwas anders. Da gab es schon damals ein Bewusstsein für das Bewahren – so schizophren das auch ist. Ob sich dieses Verhältnis zum Wendentum bis heute verbessert hat, kann ich nicht sagen, ich lebe ja seit zwanzig Jahren im Berliner Exil.
Selbst auf dem Niedersorbischen Gymnasium, auf das ich ab 1997 ging, stand Sprache und Kultur bei vielen meiner Mitschülern nicht hoch im Kurs. Eine fast ausgestorbene Sprache zu lernen, die uns keinerlei Vorteile in unserer beruflichen Zukunft geben würde, das erschien uns absurd. Nach dem weitgehenden Zusammenbruch der ostdeutschen Industrie gab es um die 20 Prozent Arbeitslosigkeit und eine massenhafte Abwanderung in den Westen. Wir bereiteten uns innerlich darauf vor, aus der Heimat wegzuziehen, eine Verwurzelung mit den eigenen Ursprüngen wäre da nur hinderlich.
Viele meiner Mitschüler waren auf dem „NSG“, weil die Schule mit viel Landesmitteln ausgestattet als gute Schule galt. Da war der niedersorbische Fremdsprachenunterricht schlicht eine zu schluckende Kröte. Auch wurde damals wenig bis nichts getan, um ein gemeinsame sorbische Identität jugendgerecht zu fördern … oder diese Bemühungen sind an mir vorbei gegangen. Verkehrssprache war zum Beispiel immer deutsch. Feste wie Zapust gab es zwar, aber wie auf dem Dorf konnte ich dem Trachtenausführen zur Blasmusik nicht viel abgewinnen. Die alten Lieder und Tänze waren hier genauso wie auf dem Dorf kein Thema, sie hätten uns als Schüler vermutlich auch nicht besonders interessiert. Kontakt zu Muttersprachlern gab es keinen (nenneswerten).
Als zweite Fremdsprache gab es schlicht wenig Zeit, sich damit zu beschäftigen. Außerdem drehte es sich im Unterricht meist um Literatur, Interpretationen von Texten, etwas Kulturgeschichte. Viel alltagstaugliches habe ich da nicht gelernt.
Das lag vielleicht auch daran, dass ich in den sieben Jahren mindestens vier unterschiedliche Lehrerinnen und Lehrer hatte, von denen natürlich jeder eine andere Linie verfolgte. Das Spektrum der Methoden erstreckte sich vom Lückentext auf dem Polylux, den man auszufüllen hatte, während die Lehrkraft eine rauchen war bis hin zu intensiven Dialog-Übungen im „Sprachenkabinett“, ein mit Kabinen, Mikrofonen und Kopfhörern ausgestattetes Klassenzimmer.
Es ist dabei wenigstens so viel hängen geblieben, dass ich Texte heute mehr oder weniger gut auf Niedersorbisch verfassen kann. Von einer Fähigkeit zum aktiven mündlichen Gebrauch bin ich aber auch jetzt noch weit entfernt, obwohl ich die Sprache seit 2019 wieder lerne.
Wenn ich spätere Absolventen des NSG versuche, auf niedersorbisch anzusprechen, gibt es da auch jetzt immer noch die Scheu, sie auch zu benutzen, also auszusprechen. Man könne das nicht, nur schreiben, heißt es dann. Ich spüre das genauso, die Überwindung ist groß. Woran liegt das? Ich kann es mir nicht erklären.
Besonders unattraktiv fand ich als Schüler die Opfererzählung, nämlich dass man „den Sorben“ soundsoviel Prozent des Siedlungsgebietes weggebaggert hätte, dass man unterdrückt und über Jahrhunderte schlecht behandelt wurde. Dass die eigene Kultur entwertet und von den Deutschen nur dort benutzt wurde, wo es eben passte, etwa zu Werbezwecken. Die Sorben als „Indianer der Lausitz“.
Nicht falsch verstehen, das stimmt alles – die sorbische Bevölkerung musste viel Unrecht erleiden, insbesondere im 20. Jahrhundert. Um diese Kolonialisierung geht es in Lemkes Film – ein Prozess, wie sie mir sagte, der im Endergebnis zur Assimilation und Verleugnung der eigenen Sprache und Identität führte, manchmal zu Hass.
Doch diese Opferpose bot für uns Jugendliche keine positiven Anschlussmöglichkeiten. Es fehlte das Moment, aus dieser Ohnmacht in den Aufbruch, in die Selbstermächtigung, die Zurü+ck-Aneignung durchzustarten. Eine Art „Widerstandskampf“ gegen die vermeintlich überlegene deutsche Kultur wäre vielleicht spannend gewesen, aber das war keine Option.
Und so fanden wir den Vergleich mit den amerikanischen Ureinwohnern unglaublich und anmaßend. Von bewaffneten Aufständen gegen die deutschen Invasoren hatten wir nämlich noch nie gehört, auch nicht von Todesmärschen und Massakern an der sorbischen Bevölkerung. Das Leid der amerikanischen Indigegen erschien und doch eine Nummer härter gewesen zu sein. Dass Kolonialismus viele Spielarten hat und dazu der Massenmord keine zwingende Voraussetzung ist, ist mir heute klar.
Besonders schlimm fand ich es aber, wenn zum Thema Leute dozierten, deren Familiengeschichte damit gar nichts zu tun hatte, selbt keinen Bezug zu Entwertung und Entfremdung hatten. Sorbe ist schließlich, wer sich zum Sorbentum bekennt, jeder kann Sorbin oder Sorbe, Wendin oder Wende sein. Also kann sich jeder als Opfer von deutschem Unrecht inszenieren, selbst wenn die eigene Familie vielleicht zu den Tätern gehörte. Und wer Opfer ist, muss ja nichts tun als auf andere zeigen, denn Schuld haben ja die anderen.
Dass es zwischen Opfern und Tätern eine scharfe Trennlinie gibt, ist natürlich Quatsch. Dass die Realität eine viel komplexere Erzählung ist, wurde uns nicht zugemutet. Also etwa, dass Söhne aus wendischen Familien sich freiwillig der Wehrmacht anschlossen, wie etwa der Bruder meiner Oma, der in Stalingrad geblieben ist. Oder dass man später angesichts des industrialisierten Wohlstands vielerorts die wendische Identität – also nicht selten patriarchialische oder quasi-feudale Strukturen – bereitwillig losließ.
Zum Beispiel, um in der Kohle zu arbeiten, um die DDR mit Energie zu versorgen. In den Betrieben nützte einem das Wendische nichts, warum also soll man es erhalten und weitergeben? So kann man die Hinwendung zum ostdeutschen Sozialismus auch als Orientierung zur Moderne, als Emanzipation von alten Strukturen sehen.
Die Alten unterstützten das sogar, denn die wollten schließlich, dass ihre Kinder es mal besser haben als sie selbst: Nicht tagein, tagaus auf dem Hof arbeiten, sondern in der Stadt, in einer Neubauwohnung mit fließend Wasser. Da ist es wie mit den alten Spreewaldhäusern: Vielleicht schön anzusehen, aber für das moderne Leben nicht besonders praktisch. Und so war es vielleicht der ganz normale Lauf der Dinge, dass die Kultur des „alten Volkes“ ausstirbt.
Ein fatales Missverständnis: Die wendische Kultur ist reich, die Sprache voller wunderschöner Besonderheiten. Für die Menschen aus der Lausitz bietet sie eine große Fläche zur Identifikation, angefangen bei der eigene Familiengeschichte, über sprachliche Eigenarten in der eigenen Mundart bis hin zu den Namen von Familien und Dörfern oder Flurnamen. Das Wendische darf nicht sterben.
Die sorbische Identität hätte mehr Anziehungskraft auf mich gehabt, hätte sie damals schon stärker von innen heraus geleuchtet. Stattdessen war da die vom Sorbischen entfremdete Bevölkerung und eine „nutzlose“ Kultur. Wie entfacht man aber eine Art „Nationalstolz“, wenn dieser vor allem mit Rückwärtsgewandtheit, Fremdenhass und Prügeleien assoziiert wird? Ich selbst habe immer noch Scheu, mich als „Sorben“ oder „Wenden“ zu bezeichnen.
Grit Lemkes „Hanka“-Film gibt darauf Antworten: Jeder muss seinen eigenen Zugang zum Sorbischen finden, sofern einem etwas daran liegt. Die individuellen Lebensgeschichten zeigen, dass man verloren geglaubtes auch wieder mit Leben füllen kann. Die Hauptprotagonistinnen des Films, Anna-Rosina und Ignac Wjesela, zeigen auf beeindruckende Weise, dass es in Sachsen noch stolze Sorben gibt, wie sie in der Niederlausitz selten sind. Es ist auch ein Beispiel, an welcher Stelle wir von den Obersorben lernen können – ein Gedanke, der in meiner Heimat vielen nicht gefallen dürfte.