Eine neue Studie von zwei Sorabisten von der Uni Leipzig wird gerade heiß diskutiert. Demnach gäbe es in und in der Gegend um Cottbus nur noch 50 bis 100 „kompetente“ Sprecherinnen und Sprecher, die die niedersorbische Sprache beherrschten.
Das ist sehr wenig – und weit entfernt von den „offiziell“ bezifferten 20.000 Niedersorben in der Niederlausitz. Diese Zahl stammt aus Erhebungen aus den 1990er Jahren und findet sich überall, gilt aber schon seit langem als unrealistisch. Doch Vorsicht: Die Zahl der Sorbisch Sprechenden und die der Sorben ist nicht deckungsgleich. Sorbe oder Wende ist heute, wer sich dazu bekennt – egal welche Sprache derjenige spricht. Umgekehrt würde sich nicht jeder, der Sorbisch auf hohem Niveau spricht, als Sorbe oder Wende bezeichnen. Und auch nicht jeder Sorbe lebt in der Lausitz.
Doch immer, wenn es um Zahlen rund um die Sorben geht, bricht Panik aus. Vermutlich hat das böse historische Gründe, die tief ins kollektive Gedächtnis von Minderheiten eingeschrieben sind: Nach der Erhebung kommt die Auslöschung. Ein ehrlicher Umgang mit den Zahlen tut aber Not. Er bietet auch die Chance, gezielter zu fördern. Aus einer empirischen Erhebung wird noch keine Bedrohung – vielmehr wird man ganz ohne Zahlen noch angreifbarer.
Viele befürchten nun jedenfalls, dass die Minderheit angesichts dieser traurigen Zahlen weniger gefördert und damit deren Existenz noch stärker bedroht wird. Davon wäre das Brauchtum auf den Dörfern genauso wie Theateraufführungen und Sprachschule in Cottbus betroffen. Der RBB hat ein sorbisches Radio- und TV-Programm, am Sorbischen Institut wird Forschung betrieben, die Stiftung für das Sorbische Volk finanziert zahlreiche Projekte, das Stipendienprogramm "Zorja" bildet jährlich bis zu zehn Erwachsene sprachlich aus. All dies stünde längerfristig zur Disposition.
Bevor man das aber alles infrage stellt, lohnt sich ein genauerer Blick auf die Studie, deren Methodik und Begriffsdefinition. Und was man daraus wirklich ableiten kann. Schreiben bedeutet für mich Denken, daher walze ich das alles hier in epischer Breite aus.
Wie die Autoren Till Vogt (Till Wojto) und Sabine Asmus diskutieren, ist die Definition von Sprechenden nicht ganz einfach. Sie orientieren sich am Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen (GER), der Sprachen lernende in Sprachniveaus von A1 („Anfänger“) bis C2 („Annähernd muttersprachliche Kenntnisse“) einteilt. Die höchste Stufe ist wie folgt definiert:
„Kann praktisch alles, was er/sie liest oder hört, mühelos verstehen. Kann Informationen aus verschiedenen schriftlichen und mündlichen Quellen zusammenfassen und dabei Begründungen und Erklärungen in einer zusammenhängenden Darstellung wiedergeben. Kann sich spontan, sehr flüssig und genau ausdrücken und auch bei komplexeren Sachverhalten feinere Bedeutungsnuancen deutlich machen.“
Wiederholt wurde wurde in der Community in den letzten Wochen kritisiert, diese Kriterien würden wendische „Muttersprachler“ – also traditionelle Sprecher, die ihre Sprache von ihren Eltern vermitteln bekamen – nicht erfüllen. Also die älteren Sprecher auf den Dörfern, oder vielleicht auch die Kindern von Neusprechern. Was das Hören, Lesen und Sprechen angeht, sollten die traditionellen Sprecher die Anforderungen ohne Probleme erfüllen.
Wojto selbst hat das erforderliche Sprachniveau mit dem von Abiturienten in einer Fremdsprache im Leistungskurs verglichen. Das scheint gut zu passen, denn das C2-Niveau umfasst explizit auch eine Schreibkomponente:
„Ich kann klar, flüssig und stilistisch dem jeweiligen Zweck angemessen schreiben. Ich kann anspruchsvolle Briefe und komplexe Berichte oder Artikel verfassen, die einen Sachverhalt gut strukturiert darstellen und so dem Leser helfen, wichtige Punkte zu erkennen und sich diese zu merken. Ich kann Fachtexte und literarische Werke schriftlich zusammenfassen und besprechen. Die Grammatik und Rechtschreibung beherrsche ich fast fehlerlos.“
Somit fallen die „Muttersprachler“ raus: Sie dürften anders als Sprachlernende viel weniger formelle Kenntnisse über Grammatik, Etymologie und andere theorwtische Kenntnisse verfügen, beherrschen sicher nicht alle „Register“ von informeller Sprache bis hin zu professioneller Konversation mit Spezialvokabular – und schon gar nicht schriftlich.
Meine Uroma aus Gablenz (Muskau) konnte kein Sorbisch schreiben, sich aber nach ihrem Umzug nach Burg problemlos mit den wendischen Einheimischen unterhalten. Unsere Nachbarin in Burg-Kolonie war vermutlich nicht in der Lage, in ihrer Sprache eine Literaturanalyse vorzulegen, wie es von Abiturienten erwartet wird. Doch bezog sie den „Nowy Casnik“, las ihn und wäre sicher imstande gewesen, das Gelesene wiederzugeben.
Vielmehr dürfte damals wie heute das Niveau der heutigen Sorbisch sprechenden unter dem von Muttersprachlern großer Sprachen liegen. Dies sei typisch für Minderheitensprachen, argumentieren die Autoren. Als Domänensprache etwa an den sorbischen Institutionen verfügt sie über ein verengtes Vokabular. Die „Altsprecher“ hätten kaum Kontakte untereinander, „ihre Sprachfähigkeiten sind oft begrenzt auf den lokalen Dialekt und schwinden wegen fehlender sprachlicher Interaktion“, heißt es in der Studie. (Ich empfinde die dialektalen Unterschiede übrigens als Reichtum der Sprache, nicht für eine Schwäche.)
Daraus könnte man nun folgern, dass es in der Niederlausitz nie mehr Menschen als heute gegeben hat, die das C2-Sprachniveau „kompetent“ in all seinen Facetten erfüllt. C2 beschreibt eben eine bildungsnahe Sprachkompetenz, die über rein mündliche Alltagsfähigkeit hinausgeht. Der Vorwurf, mit der Studie eine Art „Sprachelite“ zu messen, die es so nie gegeben hat, scheint mir daher nicht ganz unbegründet.
Wie kommen die Autoren zu ihrer Zahl von 50-100? Kurz gesagt, sie haben überlegt, woher sie Sorbischsprechende kennen und abgeschätzt, wie viele „kompetente Sprecher“ darunter sein könnten. Niemand hat also im Rahmen der Studie Menschen gezählt und ihren Sprachstand nach standardisierten Verfahren erhoben (wie es wohl methodisch korrekt wäre).
Wie viele zertifizierte C1/C2-Sprecher gibt es denn nun? Gar keine, denn die Beschreibungen dazu gibt es nicht, Zertifikate werden gar nicht angeboten, sondern werden erst 2025/26 zur Verfügung stehen. Es gibt jedoch gerade einmal drei erteilte B2-Zertifikate.
Die „Schule für niedersorbische/wendische Sprache und Kultur“ bietet jährlich einen Konversationskurs an, der wohl einem Zielniveau von C1 entsprechen soll und laut Studie von durchschnittlich 43,2 Teilnehmenden besucht wird – oft jedes Jahr dieselben Personen. Die Autoren schätzen, dass es nur Einzelne ein C1-Niveau erreichen, allerdings ohne Belege. Der reale Sprachstand ist unbekannt. Verwertbar ist die Zahl also nicht.
Mehr als 1600 Absolventen des Niedersorbischen Gymnasiums (DSG) gab es in den letzten 30 Jahren, rechnen Wojto und Asmus vor. Davon war ich einer. Meine Erfahrung deckt sich mit den Spekulationen in der Studie: „Wer den Sprachstand [der Abiturienten] kennt, muss zugeben, dass höchstens zehn Prozent das Sprachniveau B2 erreichen", bemerken die Autoren lapidar und wenig wissenschaftlich. „Extrem selten“ seien kompetente Sprecher darunter. Da der Sprachstand im Grunde aber unbekannt ist, dürfte die Zahl eigentlich ebenfalls nicht verwertbar sein.
Aus diesem Pool rekrutieren sich messbar sehr wenige Interessenten für die Sorabistik oder das Sorbischlehrer-Studium in Leipzig. In den letzten zehn Jahren hätte sich durchschnittlich eine Person pro Jahr eingeschrieben, teilweise aus dem slawischsprachigen Ausland.
Vierter Punkt: Das Zorja-Projekt, das pro Jahr zehn Sprechende ungefähr auf C1-Niveau generieren soll. Auch hier wird der Sprachstand nicht formal erfasst. Zwei bisherige Jahrgänge á zehn Teilnehmer ergibt hier aber immerhin etwa 20 Sprechende.
Dann führt das Autorenteam ihre eigene Crowd ins Feld, nämlich die sorbischen Institutionen, an denen ein konsequenter Sprachgebrauch Hauspolitik ist: Das Sorbische Institut, die Redaktion des Nowy Casnik oder wissenschaftlichen Gruppen wie an der Uni in Leipzig. In diesem Umfeld sollen etwa 50 Menschen arbeiten. Auch hier ist der echte Sprachstand aber ebenfalls unbekannt und die Autoren berufen sich auf Erfahrungswerte.
Außerdem sind wohl 15 Familien erfasst, in denen das Niedersorbische in der Familie weitergegeben wird. Die Sprachqualität von Eltern und Kindern werde aus Fachkreisen heraus jedoch angezweifelt. Ein wissenschaftliches Monitoring fehlt. ich denke, es dürfte praktisch ausgeschlossen sein, dass hier ein C2-Niveau nach den formalen Kriterien vermittelt wird. Und zwar aus den gleich Gründen, weshalb traditionelle Muttersprachler dieses nicht erreichen.
Bei dieser Datenbasis kann man tatsächlich nicht mehr als grob schätzen und so kommt das Autorenteam auf seine bescheidenen Zahlen, die aber angesichts der Überlegungen realistisch erscheinen. Das Paper eine wissenschaftliche Arbeit zu nennen, wäre aber auch etwas hoch gegriffen
Update, 17.04.2025: Axel Jagau wies mich auf Bluesky auf die Antwort von Nicole Dołowy-Rybińska hin, einer Spezialistin für Minderheitensprachen von der Polnischen Akademie der Wissenschaften. Sie lässt kein gutes Haar an der Arbeit und findet, sie „hätte nie veröffentlicht werden dürfen“.
Sie bemängelt, anstatt fundiert statistisch zu arbeiten, hätten die Autoren „Abkürzungen“ genommen und lediglich aus ihrer Erfahrung heraus geschätzt.
[Die Autoren] maßen sie sich das Recht an zu beurteilen, wer ein legitimer Sprecher ist und wer nicht, weil sie es selbst versäumen, die Zahl der „kompetenten Sprecher“ mit Hilfe einer geeigneten Methodik zu ermitteln.
Die Autoren behandelten den Spracherwerb als statischen Zustand und nicht als fortlaufenden Prozess. Sie kritisiert auch, dass die Situation des Niedersorbischen nach dem Zweiten Weltkrieg und der Ausschluss der Sprache aus dem öffentlichen Leben und Institutionen Bedingungen schuf, dass sich „kompetente Sprecher“, wie sie die Leipziger definieren, kaum bilden konnten. Die Definition von Sprachkompetenz zieht die Professorin überhaupt in Zweifel, und dass in der soziolinguistischen Forschung übliche Standards und Methoden ignoriert wurden.
Dołowy-Rybińska kommt zu dem Schluss, dass nicht nur die methodische Genauigkeit der Studie von Till Wojto und Sabine Asmus fragwürdig ist, sondern auch ihre ethische Position. Die Angabe einer ungenauen Zahl einer willkürlich definierten Sprechergruppe in einer ernsthaften Sprachgefährdungssituation wie dem Niedersorbischen könne der Gemeinschaft und ihren Revitalisierungsbemühungen mehr schaden als jeder akademische Nutzen es wert wäre.
Was macht man nun mit den Ergebnissen und den Maßstäben der Studie? Es hängt davon ab, was man sich von den letzten Jahren der Sprachförderung versprochen hat.
Es ist seit Langem klar: Die Kontinuität ist dahin, das sprachliche Band zwischen den Generationen spätestens nach dem zweiten Weltkrieg gerissen. Was jetzt an Sprechern heranwächst und gezielt institutionell gefördert wird, muss also etwas Neues sein. Wenn man sich hier ein hohes sprachliches Niveau als Ziel gesteckt hat, wäre es eigentlich keine unrealistische Forderung, dass entsprechend viele Sprechende auf diesem Niveau ausgebildet werden – sofern man die Programme entsprechend gestaltet.
In dem Zusammenhang mag es auch nicht besonders zielführend sein, die traditionellen Sprecher zu idealisieren. Sie mögen sprachlich kompetent im Alltag sein, aber das reicht nicht aus, wenn man als Ziel eine bildungssprachliche Weiterentwicklung hat.
Es stellt sich auch die Frage, welche Maßstäbe man realistischerweise an die heutige sorbische Sprachcommunity anlegen möchte. Die Motivation von Erwachsenen, Niedersorbisch als Fremdsprache zu erlernen ist hochgradig individuell und reicht vom Interesse an slawischen Völkern, an der sorbischen Literatur über Identitätsfindung bis zur Berufswahl. Entsprechend wird das Niveau unterschiedlich ausfallen, die C2-Perfektion in jeder der Kategorien ist wohl gar nicht das Ziel eines jeden Lernenden.
Die Studie zeigt auch, dass das Gros der „kompetenten“ Sprecher durch die Mitarbeitenden der Einrichtungen, Aktivisten, Funktionäre und Amtsträger gestellt wird. So entsteht leicht der Eindruck, das Sorbentum in der Niederlausitz bestehe nur noch aus „Berufssorben“, die die Sprache zum Zwecke des Broterwerbs pflegen.
In dieser Erzählung lauert auch der Mythos, dass eine „echte“ Kultur nur authentisch ist, wenn sie nicht institutionell vermittelt wird. Das romantisiert eine verlorene Welt und delegitimiert gleichzeitig die Arbeit jener, die sie aktiv erhalten wollen.
Ich vermute, dass Ursache und Wirkung sich genau andersherum verhalten. So geht der Wunsch des Spracherwerbs immer mit einer Verbundenheit zur sorbischen Kultur einher. Und oft ergibt sich daraus auch der Bedarf, mehr für den Kulturerhalt zu tun. Die Leute werden Teil der Institutionen, engagieren sich als Dozenten, im Rundfunk, in den wissenschaftlichen Institutionen.
Vielleicht muss man die „Berufssorben“ (was für ein schreckliches Wort) auch als Katalysator verstehen – also dass die Engagierten auch außerhalb des beruflichen Umfeldes Menschen begeistern können und als „Beutesorben“ mit auf die Reise nimmt.
Sollte sich auf Basis der Arbeit nun wirklich die Ansicht durchsetzen, es „lohne“ sich nicht, die sorbische Minderheit weiterhin fördern, hätte sich die eingangs erwähnte Einschätzung bewahrheitet und die Germanisierung in der Niederlausitz wäre dann praktisch abgeschlossen.
Natürlich gibt es da noch das Brauchtum auf den Dörfern und die Pflege der Trachten. Ohne Zweifel identifiziert sich ein großer Teil in meiner Heimat mit seinem slawischen Erbe. Schulen werden stolz nach wendischen Literaturgrößen benannt, Kitas bekommen niedersorbische Namen, Denkmäler für berühmte Wenden werden gepflegt. Der Anteil der deutschsprachigen wendischen Bevölkerung in der Lausitz dürfte weit über den genannten 100 liegen. Eine Null an die Zahl dranzuhängen, dürfte bei Weitem nicht reichen.
Die Bereitschaft, sich die Sprache noch als Erwachsener anzueignen, ist aber gering. Zu kompliziert, zu wenig nützlich sei sie, höre ich. Was viele in meiner Heimat nicht begriffen haben: Mit der Sprache geht ein wesentlicher Teil der Kultur verloren.
Das sagt auch die Autorin Sabine Asmus dem RBB. „In Sprache sind Sichtweisen auf die Welt kodifiziert. Das kann man mit Folklore nicht erhalten.“
Die Bevölkerung setzt also ihre Hoffnung in die Bildungsinstitutionen, schickt ihre Kinder in Witaj-Kindergärten und auf das Niedersorbische Gymnasium. Auf dass sie dort die Sprache wiederaufleben lassen.
Immersionsangebote in Kitas, zweisprachiger Unterricht – theoretisch existiert nach meinem Verständnis ein durchgehendes Bildungsprogramm in Brandenburg. Das übergeordnete Ziel des Landesplans ist die „Stärkung des Niedersorbischen als aktives Kommunikationsmittel“. Es ist von sprachlicher Revitalisierung, institutioneller Verankerung und bildungspolitischer Förderung die Rede.
Wurde dieses Ziel nun verfehlt, sind die Institutionen dafür nicht richtig aufgestellt? Geht es um sprachliche Exzellenz (C1/C2), um breite Grundkenntnisse, oder um symbolische Sichtbarkeit? Vermutlich alles davon. Warum aber hat dieses System gerade einmal eine zweistellige Zahl von Sprechern hervorgebracht? An irgendeinem Punkt klappt da was nicht.
Ich könnte hier eine Kritik formulieren – aber dafür fehlen mir Einblicke, wie diese Einrichtungen etwa wissenschaftlich evaluiert werden, wie hoch das Budget ist, wie groß das Problem des Lehrkräftemangels und wie stark die politische Unterstützung ist.
Um die Situation zu verstehen, muss man aber aber die Ursachen verstehen: Ist sie eine Folge des Mangels an Geld, Prestige oder an Sprachräumen? Sind die Institutionen nicht richtig aufgestellt? Oder hängt es vielleicht auch mit dem Exodus der Jugend in den Neunzigern und frühen 2000er Jahren aus der Lausitz zusammen? Das wird man nur herausfinden, wenn man in die Forschung investiert – und nicht etwa daran spart.
Jetzt kommt das große Aber. Wenn Förderung allein reichen würde, hätte der Effekt schon längst da sein müssen. Wenn Identität reichen würde, müsste sie sich längst in politischem Handeln zeigen. Wenn kulturelle Angebote reichen würden, wären die Sprachräume längst voll.
Als Werkzeug ist die Sprache bekanntlich nur bedingt nützlich. An ihren Erhalt zu appellieren, weil sie sonst ausstirbt, erzeugt da eher ein schlechtes Gewissen und wenig echte Motivation. Wenn auch nur noch Akademiker und Sprachaktivisten sich dafür interessieren, bleiben die „normalen Menschen“ außen vor.
Ich hätte natürlich gern, dass die ursprünglich wendische Bevölkerung ihren Stolz wiederentdeckt, dass sie den Reichtum und die Schönheit der Sprache erkennt. Dass sie aus eigenem Antrieb die entsprechenden Maßnahmen selbstbewusst politisch einfordert und dann auch nutzt.
Aber Stolz lässt sich nicht verordnen und man muss sich fragen, warum er in den letzten zehn Jahren trotz verbesserter Bedingungen nicht wesentlich gewachsen ist. Was ich will, ist ein kultureller Kipppunkt, ein Ereignis, das die Leute realisieren lässt: „Das ist unser Ding. In die Hände gespuckt, es wartet Großes auf uns.“
Vielleicht reicht es schon, wenn ein Jugendclub auf dem Dorf eine eigene Wendisch-AG startet. Oder wenn sich zwei Eltern entscheiden, mit ihren Kindern beim Abendbrot konsequent wendisch zu reden.
Für mich hat Grit Lemkes Film „Bei uns heißt sie Hanka“ diesen Aufbruchsmoment vielleicht nicht ausgelöst, aber bestärkt. Dass Künstlerinnen wie Hella Stoletzki und die Crew von Kolektiw Wakuum neue Rollenbilder und moderne Identifikationsmerkmale liefern kann, dass es jedes Jahr mehr Interessenten für den Cottbusser Sprachkurs gibt, dass mit Subsorb ein subkuturelles Festival aus der Community heraus selbst organisiert wird – das alles stimmt mich optimistisch.
Vielleicht sind 50-100 „kompetenten Sprecher“ keine berauschende Zahl. Doch wir wissen nicht, ob diese Zahl gerade wächst oder schrumpft. Wenn nur zehn dieser 100 andere mitziehen – jedes Jahr – kann daraus mehr entstehen, als Statistiken heute vermuten lassen. Dann wären wir auf einem exponentiellen Wachstumskurs …
Ich wünsche mir jedenfalls, dass Sorbisch nicht als Mahnmal einer sterbenden Kultur verstanden wird, sondern als Einladung, etwas Schönes wiederzuentdecken. Das obersorbische Projekt „Zari“ setzt da die richtigen Akzente: Es steuert bis zum Jahr 2100 eine utopisch anmutende Zahl von 100.000 Sprechern an. Vielleicht braucht es solche Utopien, um die Leute mitzuziehen.