Es ist Juli 2022 und es ist mir eigentlich schon wieder viel zu warm. Mit Hemd und geschlossenen Schuhe versuche ich, möglichst im Schatten der vielen Bäume zu bleiben. Wir sind früh dran, also muss ich nur warten, bis die späteren Gäste über die heiße Wiese huschen, um uns die Hand zu schütteln.
Trotz der Schwüle ist die Jugendweihe, zu der wir eingeladen wurden, schön: sie findet auf dem Hof meines Onkels statt, idyllisch im Außenbereich des Spreewalddorfs Burg/Bórkowy gelegen, direkt am Fließ. Hier ist mein Vater mit seinen sechs Geschwistern aufgewachsen, und sie sind alle gekommen.
Ich sehe Teile der Familie wieder, zu denen ich jahrelang keinen Kontakt hatte – wegen Corona, aber auch weil seit dem Tod meiner Oma kein konkreter Anlass bestand. Es gibt Plinse direkt vom gusseisernen Plinseisen. Die besten, die ich je gegessen habe.
Mein Cousin, der inzwischen in Kyiv lebt, hat seine Freundin mitgebracht – eine Ukrainerin, die in Russland geboren ist. Sie ist sehr jung, kann uns aber viel über die Hintergründe des russischen Kriegs beibringen. Die Verwandtschaft aus Berlin und Potsdam ist auch da. Es fühlt sich an, als wenn die Welt ein bisschen in meinem Heimatdorf angekommen ist, von dem ich mich zeitlebens immer mehr entfremdet habe.
Meine ersten sechs Lebensjahre verbringe ich „im Dorf“, zusammen mit meinen Eltern im Haus meiner Großeltern, zu denen ich eine enge Beziehung habe. Meine Kindheit ist entsprechend idyllisch. Mit den Nachbarjungs auf den Teichwiesen herumstromern, Buden aus Brettern bauen, Altpapier sammeln und zu Sero bringen, Schlittschuhlaufen auf den Teichwiesen.
Als die Wende kommt, ziehen wir in den Außenbereich, nach Kolonie. Burg ist das flächenmäßig größte Dorf Deutschlands und umfasst neben dem Ortskern eine ausgedehnte Kulturlandschaft mit eingesprengselten Höfen. Meine Eltern haben ein Haus gebaut in jenem Ortsteil, wo der alte Fritz im 18. Jahrhundert Ausländer aus Sachsen, Böhmen oder Österreich ansiedelte. Von dieser preußischen „l’entreprise“ leitet sich übrigens auch der ursprüngliche wendische Ortsname „Prize“ ab. Hier bin ich gut sechs Kilometer vom eigentlichen Burg entfernt, vom Dorfleben bekomme ich nichts mit.
Zur selben Zeit komme ich in die Schule. Wir sind der erste Jahrgang, der nach der Wende eingeschult wird. Die allgemeine Aufregung verstehe ich nicht. Schließlich ist für mich sowieso alles neu. Für meine Familie bleibt das Leben relativ stabil. Mein Vater ist als Fernmeldetechniker für die Post unterwegs, meine Mutter, ausgebildete Krankenschwester, buckelt selbständig in der häuslichen Krankenpflege.
Von rechter Gewalt merke ich als Kind in den frühen Neunzigern nichts, außer vielleicht, dass sich „Chaoten“ aus den umliegenden Käffern zu den Burger Dorffesten treffen, um sich so lange zu prügeln, bis die Polizei kommt.
1997 gehe ich nach Cottbus an die weiterführende Schule. Jeden Tag eine halbe Stunde ins Dorf radeln, dann eine halbe Stunde mit dem Bus in die Stadt reisen. Ja, auch am niedersorbischen Gymnasium gibt es „Rechte“ mit Glatzen und schweren Stiefeln. Wohl keine ideologisch gefestigten Judenhasser, sondern Jugendliche, die provozieren wollten. Die Regel war das jedoch nicht. In Cottbus waren wir eher die Schule der Ökos und Linken, also auch hier hatte ich Glück und bin durch Zufall im Idyll gelandet.
In der Retrospektive ist die rechte Gewalt in der Stadt trotzdem allgegenwärtig. Eine Cordhose reicht, um in der Straßenbahn als „Zecke“ beschimpft und geschubst zu werden und Prügel angedroht zu bekommen. Ein Schulkamerad bekommt auf’s Maul und hat tagelang ein geschwollenes Auge. Glatzen hatten ihn vom Fahrrad gezerrt und verprügelt. Einem anderer wird mit einer Pfefferpistole ins Gesicht geschossen. Solche Vorfälle gibt es öfters. Bei unseren Fahrradtouren am Herrentag sind wir vor Einbruch der Dunkelheit wieder zu Hause. Keiner möchte des Faschos im Dunklen begegnern.
Anfang der Nullerjahre ist für die meisten von uns klar, dass wir aus der Gegend weg müssen. Die Lausitz bietet uns keine Perspektive für Jobs oder Ausbildung. Wie ich später lerne, ist diese Erfahrung für viele aus den alten Bundesländern völlig fremd. Wir aber verlagern unsere Lebensmittelpunkte nach West- oder Süddeutschland, häufig aber das nur hundert Kilometer entfernte Berlin. Auch ich lande in der etwas dreckigen Hauptstadt, studiere, gründe eine Familie, und lebe auch immer noch gern hier. Die Stadt hat viele Vorzüge, die ich nicht mehr missen möchte. In den ersten Jahren fahren wir fast jedes Wochenende mit dem Zug zu unseren Eltern in den Spreewald.
Auch an diesem Wochenende im Sommer 2022 steigen wir in die Bahn, um mit der Familie zu feiern. Die Gespräche sind gut, wir genießen die Natur, die Plinse und die obligatorische Kahnfahrt. Es fällt uns aber irgendwann ein schwer muskelbepackter Typ mit Tattoos und runzeliger Kopfhaut auf, der so alt sein muss wie wir. Er ist der Neffe meiner angeheirateten Tante, erfahren wir. Wir begrüßen uns freundlich mit Handschlag, dann unterhalte ich mich aber wieder mit unseren Cousins und Cousinen, die ich aus Kindertagen kenne. Wir witzeln über den Muskelprotz: „ist der fit oder völkisch“? Ich ahne schon, dass ich mit einer Antwort auf diese Frage nicht gut umgehen können würde.
Erst im Nachhinein stellt sich heraus, dass es sich um einen den Anwalt handelt, der ursprünglich eine Karriere als Richter angestrebt hat und dessen problematische Gesinnung durch alle möglichen Medien ging. Denn Ermittler des Verfassungsschutzes erfuhren durch Zufall von seinem extremistischen Umtrieben und es gab ein riesiges Medienecho, woraufhin er seinen Dienst quittierte. Laut Wikipedia verteidigt er seitdem unter anderem mutmaßliche Rechtsterroristen, NSU-Unterstützer und Angeklagte in Mordprozessen.
Also doch ein „Völkischer“. Unsere Verwandtschaft hatte ihn nicht nur zusammen mit uns eingeladen, sondern es nicht einmal für nötig gehalten, uns zumindest darüber zu informieren, in welchen Kreisen wir uns bei dieser Jugendweihe bewegen würden. Damit komme ich durch das Schweigen und Wegsehen meiner Familie in den Genuss der Illusion einer heilen Welt. Unter dem Teppich liegt Hassgesang über Bomben auf Israel. Ich bin stinksauer. Wirkliche Konsequenzen ziehe ich keine.
Auch wenn B. nicht aus Burg ist – auf die Illusion der heilen Welt ist die Touristengegend im wunderschönen Spreewald angewiesen, denn viele der etwa 4000 Einwohner der Gemeinde sind davon abhängig, dass Gäste aus Berlin oder Dresden hier ihr Geld lassen. Dann ist es natürlich blöd, wenn die zwei Lehrer Max Teske und Laura Nickel von der Burger Schule mit einem Brandbrief an die Öffentlichkeit gehen, um Missstände anzuprangern, die Presse überregional berichtet und dann auch noch Medienteams mit Funkwagen vor Ort auftauchen und den Bewohnern Mikrofone unter die Nase halten.
Tatsächlich geben die Beiträge von „Bild“ oder im Fernsehen vieles nicht richtig wieder, spitzen zu und picken sich für O-Töne die größten Dumpfbacken heraus. Urlauber stornieren ihre Zimmer und beschimpfen die Gastwirte am Telefon. Als wenn der Besucherrückgang aufgrund der angespannten Wirtschaftslage nicht schon schlimm genug wäre. Vieles von dem, was jetzt passiert ist, ist sicher ungerecht. Das Dorf fühlt sich über den rechten Kamm geschoren. Man fühlt sich als Opfer, mal wieder. Schon zu Corona hatte man viel zu jammern über „die da oben“.
Doch man hat sich über lange Zeit mit den Nazis arrangiert. Rechte Schüler sind zur Normalität geworden, schon bevor meine Altersgenossen dort vor mehr als zwanzig Jahren zur Schule gegangen sind. Was hier als normal galt, ist nie normal gewesen. Nicht ohne Grund werden die aktuellen Geschehnisse als Dummejungenstreiche abgetan. Die Restaurants „Deutsches Haus“ und „Kolonieschänke“ werden seit Kurzem von einem geführt, der der rechtsextremen Szene zugerechnet wird. Als die Medien davon berichteten, fühlte sich das Dorf mal wieder in den Dreck gezogen. Auch ich werde darauf angesprochen, kann aber nicht sagen, ob es seitens der Dorfgemeinschaft ernsthafte Bemühungen gegeben hat, dem rechten Treiben Einhalt zu gebieten.
Diese Woche kündigen die Lehrer an der Burger Schule, weil sie bedroht werden und sich an den grundlegenden Verhältnissen auch nach Monaten nichts verändert hat. Auch im aktuellen Fall erreichen mich aus der Heimat zwar auch entsetzte Stimmen, aber es gehen auch gleich die Schuldzuweisungen los.
Eigentlich seien die Lehrer irgendwie schuld an der Misere, weil sie ihre Ideologie den Schülern überstülpen, provozieren, den Dienstweg nicht einhalten und sich seit den Vorfällen nicht engagieren würden. Von den Geschichten, die die Schulleiterin angeblich unter der Hand berichtet hätte, will ich nichts glauben. Sie ist wohl kaum eine neutrale Beobachterin. Es ist tatsächlich kein ausschließliches Burger Problem: einige Dörfer in der Umgebung wählen deutlich rechter und die Kinder dieser Familien gehen hier zur Schule.
Den Reflex, die Anschuldigungen von sich zu weisen, kann ich gut verstehen. Die Menschen fühlen sich in Ihrer Existenz bedroht und in eine Ecke gestellt, in der sie sich selbst nicht sehen. Sie wollen einfach nur ihr Leben leben. Über Jahrzehnte hat die Politik den erstarkenden Rechtsextremismus ignoriert. Vor den gewaltbereiten Nazis hatte man vor allem Angst, gegen sie nichts in der Hand. Der bürgerliche Protest war häufig still. Man schüttelte leise den Kopf, hielt den Mund, wenn rechte Themen diskutiert wurden, und verabschiedete sich stillschweigend aus den Entscheidungsgremien. Ich selbst hatte es ganz ähnlich gemacht. 2003 hatte die Koffer gepackt und mich davon gemacht, sollen sie doch selbst sehen, wie sie mit dem Problem fertig werden.
Die wenigen, die sich öffentlich gegen rechts engagieren, werden angegriffen. Für sie ist die Verurteilung durch Außenstehende besonders bitter. Ihre Arbeit ist nicht nur unsichtbar, sondern wird negiert, die Erfolge geleugnet. Die Wahrheit ist komplizierter als die Medien sie häufig darstellen: Die Lausitz ist nicht komplett rechts, nur leider wird gegen das existierende Nazi-Problem viel zu wenig unternommen.
Meine Pläne, irgendwann wieder in meine Heimat zurückzuziehen, habe ich jedenfalls wieder aufgegeben. Die Natur ist zwar toll und ich hänge an der Familie, aber vorerst reicht es mir, am Wochenende meine Eltern zu besuchen oder zu schönen Anlässen meine Verwandten zu sehen. Die nächsten Male hoffentlich ohne böse Überraschung.