Eine rückwärts erzählte Geschichte über einen Twitterunfall, Douglas Adams, Riesenpapageien und ein viel zu wenig beachtetes Buch.
„Hä, wer ist denn Sirocco?" fragte mich mein Kollege quer über den Schreibtisch. Der Groschen fiel bei mir nur äußerst langsam: „Ein Papagei aus Neuseeland, wieso fragst du?" Der Kollege wies auf den Bildschirm. Offenbar hatte jemand über den offiziellen Twitterkanal meines Arbeitgebers die frohe Nachricht verbreitet, dass ein vermisster und nach einem heißen Mittelmeerwind benannter Vogel endlich wieder aufgetaucht ist. Und da wurde auch mir plötzlich auch sehr heiß. Ich hatte doch nicht etwa ...
Sirocco ist ein Kakapo. Ich lernte ihn vor ein paar Jahren über ein Youtube-Video kennen. Der grau-grüne Vogel hatte während eines Fotoshootings zuerst den Arm des Zoologen Mark Carwardine und dann dessen Nacken erklettert und klatschte ihm dann aufgeregt die Flügel ins Gesicht. Daneben die britische TV-Legende Stephen Fry, sichtlich erheitert von dem innigen Paarungsversuch. Fry kommentierte trocken: „So etwas Witziges habe ich noch nie gesehen. Gevögelt von einem seltenen Papagei!"
Das Video stammt aus einer BBC-Doku namens „Last Chance to See, Part 2" aus dem Jahr 2008. Carwardine und Fry machten eine Weltreise und machten dabei bedrohte Tierarten ausfindig. Hinter der witzigen Szene im dichten Wald von Codfish Island vor der Südküste Neuseelands verbirgt sich nämlich die traurige Geschichte einer Vogelspezies, die im Laufe der Evolution verlernt hatte, Angst vor Raubtieren zu haben, ein absurd ineffizientes Balzritual vollzieht und einen ebenso absurd langsamen Lebenszyklus hat. Und deshalb von eingeschleppten Ratten, Mardern und Katzen weitestgehend ausgerottet wurde.
Zwanzig Jahre zuvor hatte sich Carwardine zusammen mit dem Autor und humoristischen Genie Douglas Adams bereits auf die Suche nach seltenen Tierspezies begeben. Das Resultat war eine BBC-Hörfunkserie und ein Buch mit dem Namen „Last Chance to See" -- auf deutsch „Die Letzten ihrer Art".
_Auf der letzten Reise nach Chile setzte sich Douglas Adams versehentlich auf sein Notebook, einen Cambridge Z88 und verlor so all seine Notizen für sein Buch. Credit: michael hughes & [Bea](https://commons.wikimedia.org/wiki/User:Beao o, CC-BY-SA_
Douglas Adams -- berühmt geworden für die fünfbändige Science-Fiction-Trilogie „Per Anhalter durch die Galaxis" -- bezeichnete „Die Letzten ihrer Art" als sein befriedigendstes und wichtigstes Werk, auch wenn es kommerziell längst nicht an den Erfolg der Anhalter-Serie heranreichte.
Die Idee dazu entstand, nachdem die Wochenzeitung Observer den zoologisch unbedarften Adams 1985 zusammen mit dem damals noch blutjungen Mark Carwardine nach Madagaskar schickte, um dort den seltenen Aye-Aye zu beobachten. Das Erlebnis öffnete Adams die Augen für den Naturschutz, weshalb die beiden -- inzwischen gute Freunde geworden -- die Welt 1988--89 auf der Suche nach weiteren bedrohten Tieren bereisten. Darunter war auch ein Ausflug in die atemberaubende Schönheit der Berge Neuseelands und eine aberwitzige und blutige Verfolgungsjagd durch das nächtliche Dickicht der Insel.
Stephen Fry und Mark Carwardine besuchten nun nach 20 Jahren erneut die Kakapos. Adams konnte nicht mehr mitreisen, denn er war 2001 überraschend infolge eines Herzinfarkts gestorben. Der Vogel -- laut Adams der „größte, fetteste, flugunfähigste Papagei der Welt" -- hat heute auf Codfish Island eines seiner letzten Refugien. Als das Buch entstand, gab es nur noch 60 Kakapos. Heute, 30 Jahre später, sind es dank intensiver Schutzmaßnahmen immerhin 154. Sirocco ist einer von ihnen.
Sirocco auf Codfish Island. „Der Kakapo hat nicht nur vergessen, wie man fliegt. Er hat auch vergessen, dass er vergessen hat, wie man fliegt“, sagte Douglas Adams über den Kakapo. Credit: Josie Beruldsen, Department of Conservation CC-BY 2.0
Von jedem Tier gibt es eine detaillierte Biografie. Sirocco schlüpfte am 23. März 1997 und musste von Hand aufgezogen werden. Deshalb hat er sich auch nie mit einem weiblichen Kakapo gepaart, denn er ist auf Menschen geprägt.
Für den Erhalt seiner Art sorgt er auf andere Art. Die Szene mit Carwardines blutigem Nacken und schmerzverzerrtem Gesicht wurde mit mehr als sieben Millionen Views viral. Sie brachte dem nunmehr berühmten Sirocco den Titel als offiziellen Botschaftervogel und eine internationale Fangemeinde ein. Aufmerksamkeit, die das Programm zum Erhalt der Art gut gebrauchen kann.
2016 kam der Schock: Kurz vor seinem zwanzigsten Geburtstag war Sirocco verschwunden! Bei einem Routinecheck ist er dem Forschungsteam auf Codfish Island entwischt und war seitdem nicht mehr aufgetaucht. Die Fangemeinde -- darunter ich -- wartete zwei Jahre auf seine Wiederkehr.
Und so prangte am 8. Februar neben einer Meldung von Spiegel Online „Sirocco ist wieder da" auf dem Twitterkanal des Forschungszentrums, an dem ich als Kommunikator arbeite. Mit Papageien hat es nichts am Hut, wie konnte das passieren? Ja, doch ich hatte ... ich hatte den Tweet versehentlich vom falschen Twitter-Konto abgesetzt, wie peinlich! Ganz schnell verschwand er wieder aus der Timeline.
Mein Lapsus war ein vergleichsweise winziger Beitrag für den Artenschutz, denn außer meinem Kollegen und mir hatte diesen Tweet wohl niemand bemerkt. Adams hat sich nach seiner Weltreise immer wieder öffentlichkeitswirksam für bedrohte Tiere eingesetzt. 1995 zwängte er sich für Save the Rhino International in ein Nashornkostüm und ist in der sengenden Hitze Kenias den Kilimanjaro hinauf gekrochen. Und Mark Carwardine und Stephen Fry wälzten sich vor TV-Kameras im Schlamm oder ließen sich eben bereitwillig von einem sexuell verwirrten Riesenpapagei begatten.
Ein bisschen mehr Aufmerksamkeit für Sirocco kann eigentlich nicht schaden -- egal, auf welche Weise. Denn es fehlt nicht viel, und dieser bemerkenswerte Vogel und seine Artgenossen verschwinden für immer. Und das wäre wirklich schade.
Offenlegung: Teile dieses Textes erschienen zuerst im Booklet für ein im DAV erschienenes Hörbuch von „Die Letzten ihrer Art" (gelesen von Stefan Kaminski!) -- dieser Post ist aber keine Werbung und ich bekomme kein Geld dafür.