Berlin mag Deutschlands Hauptstadt der Wissenschaft sein, in internationalen Rankings kann sie mit Städten wie Boston nicht mithalten. „Dieser Vergleich ist lächerlich" bescheinigt einem Klaus Rajewsky, Immunologe am MDC, der einige Jahre in Boston gearbeitet hat. In Berlin sei es viel schwieriger, an gute Postdocs zu kommen, meint er: Die Arbeitsethik sei hier eher „entspannt", während für die meisten Leute in Boston Wissenschaft „die Hauptsache im Leben ist" und sie entsprechend arbeiten würden.^[1]^

In einem Rundbrief von Astronomie- und Physikprofessoren an ihre Doktoranden hieß es letztens: „Doktoranden mit Familie haben keine 80-100 Stunden pro Woche für ihre Arbeit. Was zählt, ist Produktivität." Die absolute Untergrenze wären aber 60 Stunden. Das heißt, der ideale Wissenschaftler arbeitet 11 bis 14 Stunden pro Tag, in einer Woche ohne Wochenende. Das Minimum beträgt 9 Stunden.^[2]^

Einer Freundin wurde letztens von einem Arbeitsgruppenleiter gesagt: „Ein guter Postdoc arbeitet 14 Stunden pro Tag, ein sehr guter 16 Stunden". Ihr trockener Kommentar dazu war nur, dass einige eben Quantität Qualität vorziehen.

Das sind drei Beispiele für die Einstellung einiger etablierter Wissenschaftler, und ist bei weitem keine Einzelmeinung. Bei einem der letzten Lindau Nobel Laureate-Meetings wurde dem wissenschaftlichen Nachwuchs von einem Nobelpreisträger ebenfalls nahegelegt, möglichst viel Zeit im Labor zu verbringen. (Leider finde ich den entsprechenden Bericht hier auf den SciLogs nicht mehr.)

Ein solches Arbeitspensum, auch wenn man es nicht als Maloche empfinden mag, ist mit Sicherheit ziemlich ungesund. Um eine 100-Stunden-Woche zu schaffen, muss man jegliche Erholungszeit am Wochenende streichen, und bleibt trotzdem mit einem signifikanten Schlafdefizit zurück. Das macht auf Dauer krank. Einige prahlen zwar damit, wie überarbeitet und übermüdet sie sind, weil sie sich so hingebungsvoll ihren Projekten widmen aber kann man in diesem Zustand überhaupt noch produktiv und kreativ sein?

Und sind diese Aussagen und Forderungen der etablierten Wissenschaftler nicht maßlos übertrieben? Sollen sie die Untergebenen nicht einfach nur unter Druck setzen und die eigenen Leistungen überzeichnen? Der Leistungsfähigkeit eines Menschen sind schließlich physische Grenzen gesetzt, wir sind keine Maschinen und selbst die vorgeblichen 100-Wochenstundenarbeiter sehen ein, dass sie immerhin ein wenig Schlaf brauchen, auch wenn es dann kaum mehr als fünf Stunden sein können. Ein Mensch kann unmöglich so viel arbeiten und dabei leistungsfähig bleiben. Übermüdet arbeitet man ineffizient und etwas Abstand zur eigenen Tätigkeit erweitert mitunter den Horizont und lässt einen Dinge erkennen, die man vor lauter Betriebsblindheit sonst vielleicht nie entdeckt hätte.

Sicher gibt es Menschen, denen soziale Kontakte eher lästig sind und die sich nur in ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit selbst wiederfinden und sich ausschließlich darüber definieren. Bekanntlich sind Menschen mit Asperger-Syndrom oft mit einem laser-artigen Fokus und einer außergewöhnlichen Intelligenz gesegnet, was aber in der Regel auf Kosten der sozialen Fähigkeiten geht. Personen mit Asperger werden meist als Prototypen der Geeks dargestellt, also die brillianten Köpfe, die das Silicon Valley aufbauten, und nach denen sogar das „Silicon Valley Syndrome" benannt wurde. Sicher sind diese Personen sehr leistungsfähig und haben mitunter ein geringeres Bedürfnis nach Privatleben. Möglicherweise ist aber genau dieser Umstand der Grund dafür, dass manche Chefs zwar erstklassige Wissenschaftler sind, aber furchtbare Vorgesetzte, die einfach nicht gut mit anderen Menschen umgehen können, die etwa ihr Team unter Druck setzen, die unfähig sind, mit Kritik umzugehen oder andere Lebensentwürfe als ihren eigenen, so erfolgreichen zu tolerieren.

Caltech-Brief

Der berühmte Brief des Caltech-Chemiker Erick Carreira an seinen Postdoc Guido Koch, der es wagte, nicht an Abenden und Wochenden zu arbeiten und dazu noch die Frechheit besaß, nach Urlaub zu fragen. Guido Koch hat heute eine Führungsposition bei Novartis.  (via)

Ich sage nicht, dass Menschen, die sich für eine Lebensweise ohne soziales Umfeld und Familie entschieden haben, falsch leben. Wenn diese Personen sich aber in einer Chef-Position wiederfinden, sollten sie sich überlegen, dass andere Menschen anders ticken, andere Bedürfnisse haben und trotz allem immer noch gute Arbeit abliefern können.

Nicht zuletzt ist anzunehmen, dass mit dieser Art von Druck wissenschaftlichem Fehlverhalten Vorschub geleistet wird. In den letzten Jahren werden die Budgets knapper, der wissenschaftliche Output weltweit größer und damit die Konkurrenz stärker. Gleichzeitig steigt die Zahl der aufgedeckten Fälle von Fälschungen in wissenschaftlichen Arbeiten immer weiter, viel sprechen von einer Epidemie des Fehlverhaltens. Wer seine Leute unter solchen Druck setzt, kann damit rechnen, dass Ergebnisse öfter beschönigt werden.

Wissenschaft ist anstrengend, und eine Promotion erfordert mehr Zeit als ein normaler Vollzeitjob. Die langfristigen Perspektiven sind dabei relativ schlecht, denn die Professur ist quasi die einzige Möglichkeit, dauerhaft im akademischen Wissenschaftsbetrieb zu bleiben. Diese Stellen sind naturgemäß rar. Darüber sollte sich jeder im Klaren sein, der damit anfängt. Letztlich mache ich das alles aber aus Interesse und Leidenschaft an der Sache, es macht mir nichts aus, weit mehr als 40 Stunden pro Woche über Ergebnissen zu brüten und Spektren auszuwerten, Ideen aufzuschreiben und Fachartikel zu lesen. Es ist nur so, dass ich mich nicht über diese Arbeit definiere, und auch andere Interessen habe -- das muss doch erlaubt sein?

Wer Kinder hat, muss damit rechnen, signifikant weniger produktiv zu sein und gegenüber den kinderlosen Kolleg_innen ins Hintertreffen zu geraten -- machen wir uns nichts vor, eine Familie zu haben, ist unglaublich anstrengend. Selbst wenn man den Rückhalt eines Lebenspartners hat, der einem viele Dinge des familiären Lebens abnimmt, wird man seine Kinder vor allem schlafend sehen.^[3] ^

Das Bild des idealen Labor-Wissenschaftlers Matratze unterm Schreibtisch, Pipette am Daumen angewachsen, im Schlaf am nächsten Paper schreibend lässt kaum Platz für „alternative" Lebensentwürfe. „Alternativ" beschreibt hier den Normalfall eines sozial eingebunden Menschen, der seinen vielfältigen Interessen nachgehen kann, die Möglichkeit zur Reproduktion hat und körperlich und geistig gesund ist.

Die komplette Selbstaufgabe kann nicht Antwort auf die Frage sein, was man tun muss, um als Wissenschaftler tätig zu bleiben. Am Beispiel Schweden kann man sehen, dass das vor allem ein kulturelles Phänomen ist, denn dort legt man viel Wert auf eine ausgeglichene Life/Work-Balance und schneidet trotzdem in internationalen Vergleichen besser ab als Deutschland.

Unsere Wissenschaftskultur macht also die Leute kaputt und befördert Leute mit sozialen Schwächen bevorzugt zu Chefs. Ich hoffe, dass das nicht immer so bleibt.

 

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Weiterführende Links

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Anmerkungen

^[1]^„That said, Berlin still isn't Germany's Boston, „that comparison is ridiculous," Klaus Rajewsky says. For example, its harder to get good postdocs here, he says, and the work ethic is more relaxed. „In Boston, science is the main thing in life for most people and they work accordingly", Rajewsky says. (Kai Kupferschmidt (2012): Science in Berlin: „Poor but Smart" Science 338, 783-9, doi:10.1126/science.338.6108.738)

^[2]^„We realize that students with families will not have 80-100 hours/week to spend at work. Again, what matters most is productivity. Any faculty member or mentoring/thesis committee will be more than happy to work with any student to develop strategies to maximize productivity, even in those cases where the student is unable to devote more than 60 hours to their work per week." (aus einem Rundbrief von Astronomie- und Physikprofessoren an ihre Doktoranden. Bereits ausgewertet von Professor Ethan" von Starts with a Bang von den ScienceBlogs.

^[3]^ Nicht ohne Grund kann man die Zahl der erfolgreichen Wissenschaftlerinnen mit Kindern an einer Hand abzählen, während es viele männliche Wissenschaftler mit Kindern gibt, denen die werte Gattin den Haushalt schmeißt.

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