Komplexität reduzieren, wo es sinnvoll und notwendig ist – das Motto von Arieh Warshel.

Als Arieh Warshel (Nobelpreis Chemie, 2013) zwei betrunkene Strichmännchen zu „Gangnam Style“ über die Leinwand taumeln lässt, lacht der ganze Saal. Die Botschaft ist angekommen. So sieht es eben aus, wenn das zweibeinige Kinesin-Molekül auf einem Mikrotubulus-Faden entlang wackelt, um Güter durch die Zelle zu schleppen.

Das taumelnde Kinesin, das Warshel zeigt, ist natürlich eine Animation. Die Bewegungen des Motorproteins, das biologische Lasten in unseren Zellen transportiert, basieren auf einem Computermodell, denn sie lassen sich nicht direkt beobachten. Kein Mikroskop der Welt kann einzelne Proteine in ihrer natürlichen Umgebung zeigen. Zusammen mit Shneior Lifson und Michel Levitt entwickelte Warshel deshalb in den 1960er Jahren das Consistent-Force-Field-Verfahren, ein vergleichsweise einfaches Modell, um das Verhalten der komplexen Biomoleküle für Computer zugänglich zu machen. Dafür wird das Molekül auf ein Ensemble von Kraftfeldern reduziert, also Gleichungen, die Wechselwirkungen und Energiekurven beschreiben. So bekommen Teile des Proteins etwa elektrostatische Ladung verpasst, und ziehen sich in Folge gegenseitig an oder stoßen sich ab.

Alles, was wir sonst über Proteindynamik wissen, haben wir anhand indirekter Methoden gelernt. Außerdem kennen wir meistens nur die Einzelteile der molekularen Maschinen, nicht aber ihr Zusammenspiel. Manche Phänomene lassen sich experimentell gar nicht klären. Wir müssen Simulationen als virtuelles Experiment begreifen, nicht als unterlegene Methode gegenüber anderen Verfahren. Sie füllen die Lücken, die rein physikalisch-experimentelle Methoden offen lassen. Ohne all die nützlichen Vereinfachungen ließe sich nicht erklären, weshalb das Kinesin „laufen“ kann.

Trotzdem: Mit dieser Art klassisch-mechanischer Modelle (MM) stößt man schnell an Grenzen. So bemühen Forscher quantenmechanische Modelle (QM), wenn sie chemische Reaktionen wie eine enzymatische Spaltung einer Bindung beobachten möchten. Diese Berechnungen sind bei biologischen Systemen viel zu aufwändig für heutige Computer – wenn es also richtig interessant wird, helfen diese Methoden den Forschern nicht weiter.

Einen Ausweg bietet ein hybrider Ansatz. Es ist gar nicht notwendig, das ganze Systemn quantenmechanisch zu simulieren. Es genügt, sich einfach auf die entscheidenden Stellen zu beschränken. Das Gesamtsystem kann aus Kugeln an Springfedern bestehen, lokal werden quantenmechanische Terme verwendet. So kann man heute mit dem QM/MM-Verfahren ein quantenmechanisches Triphosphat-Molekül in klassisch-mechanischem Wasser simulieren und damit Lehrbuchwissen widerlegen. Damit werden auch große Systeme für Simulationen greifbar und auf multiplen Zeit- und Raumskalen modellierbar.

Warshel folgt in seiner Arbeit wie in seinen Vortrag konsequent dem Motto „Man muss vereinfachen“. Das funktioniert. Er leitet Themen mit einfachen Analogien ein, die dazu noch witzig sind. Ganz schnell ist Warshel Publikumsliebling des Vormittags des ersten Tags.

Mit den halbernst gemeinten Worten „Nur weil man ein Film daraus machen kann, ist es nicht korrekt. Manche Leute nehmen sogar an, wenn es ein Film ist, muss es falsch sein“, relativiert Warshel die Gültigkeit seiner didaktischen Mittel. Die Kritik ist nicht ganz unberechtigt, aber sie geht am Kern der Sache vorbei.

Animationen und Bilder sollen Komplexität reduzieren und verbergen damit naturgemäß einen Teil der Wahrheit. Der Fokus liegt hier aber auf der Vermittlung von Konzepten. Visualisierungen von bunten 3D-Proteinstrukturen sind nicht nur hübsch, sie machen nackte Zahlen erst begreifbar. Niemand hält wackelnde Kugeln oder betrunkene Strichmännchen für die Realität in einer Zelle. Auch Warshels Kraftfelder sind eine nützliche Annäherung. Beides sind Modelle, die an den entscheidenden Stellen vereinfacht wurden. Man muss sich nur ihrer Grenzen bewusst sein.

Video: Arieh Warshel (2014) – Multiscale Simulations of the Functions of Biologocal Molecules

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