Kunstdünger und Pestizide? Teufelszeug! Jeglicher, wenn auch nur peripherer Kontakt von Saatgut zu einem Labor? Blasphemie! "Bio-Saatgut" sei das einzig Wahre, lernen wir in diesem haarsträubenden Artikel von "Nachhaltigleben". Der Text stammt eigentlich von unseren Berufslobbyisten "VielfaltErleben", generelle Vorsicht ist also angeraten und auch angebracht, wenn man solche Phrasen lesen muss:

Die Hybride aus dem Labor indes, sind eine genetische Sackgasse.

Neben solchen Nebensächlichkeiten, und dass man "Hybrid" mit dem griechischen "Hybris" gleichsetzt (ernsthaft!), dass Hybridsorten nicht im Labor gezüchtet werden und einfach mal die Supermarkt-Tomate pauschal als "geschmacksneutral" abstempelt, findet man auch echte Juwelen, bei denen kein Auge trocken bleibt. Hier etwa erklärt man dem ungebildeten Leser, weshalb Schädlingsbekämpfung ganze Ökosysteme bedroht:

Schädlinge fressende Nützlinge kommen nicht mehr zu gespritzten Pflanzen, leiden unter Nahrungsmangel, werden weniger und dienen somit nicht mehr als Futter für nächst größere Tiere wie beispielsweise Vögel. Deren Art ist dann auch wieder bedroht und so weiter.

Ohje. Muss man wirklich erklären, warum das im besten Fall hanebüchener Mumpitz ist? Dass landwirtschaftlicher Flächenverbrauch praktisch immer die Zerstörung von natürlichen Biotopen bedeutet? Dass Hochertragssorten genau das vermeiden sollen und dass Bio-Landbau dabei nicht unbedingt am besten abschneidet? Dass resistente Pflanzen ja exakt bedeuten, dass sie Schädlinge abtöten oder zumindest sich nicht von ihnen auffressen lassen? Und dass im Bio-Landbau auch -- wenn auch möglichst schonende -- Schädlingsbekämpfung praktiziert wird?

Aber gut, sehen wir darüber ganz großzügig hinweg und kümmern uns um die Kernaussage des Artikels: traditionell gezüchtetes und samenfestes Saatgut sei viel besser als moderne Sorten, die oft Hybrid-Sorten sind. Samenfestigkeit bedeutet hier, dass man im ersten Jahr gewonnene Samen wieder aussäen ("nachbauen") kann, wofür man beim Züchter in der Regel eine Gebühr entrichten muss. Schließlich hat dieser viele Jahre bis Jahrzehnte in die Entwicklung der Sorte investiert und möchte dafür auch etwas zurück bekommen. Der Sortenschutz bietet diese Möglichkeit. Hybrid-Sorten dagegen nutzen den Heterosis-Effekt der Pflanzen aus: kreuzt man zwei genetisch reinerbige Elterpflanzen, haben die Nachkommen (Hybride, von lat. hybrida = Mischling, nix mit Hybris) mitunter sehr viel mehr Ertrag als die Elternpflanzen. Die Genotypen der nachfolgenden Generationen vermischen sich aber zunehmend, sodass diese in der Regel weniger Ertrag bringen. Also kauft der Landwirt das Saatgut beim Hersteller nach. Das lohnt sich, denn er muss sein Saatgut sonst selbst ernten, reinigen, beizen und hat weder eine garantierte Reinheit, noch eine garantierte Keimfähigkeit. Das Nachkaufen hat also einen echten Mehrwehrt für den Landwirt, nicht nur Nachteile, wie im Artikel suggeriert.

Die Kehrseite ist die Abhängigkeit vom Hersteller, den man aber für mistige Ware auch zur Rechenschaft ziehen kann. Aber natürlich ist es immer gut, auf samenfeste Sorten zurückgreifen zu können, um weniger abhängig sein zu können. Man ist schließlich auch auf die Auwahl an Sorten durch die Hersteller festgelegt, im Sinne der Arten- und Sortenvielfalt ist die Entwicklung dieser nachbaufähigen Sorten zu begrüßen.

Aber trotzdem: Niemand hindert einen daran, sortenfestes Saatgut anzubauen und zu verkaufen. Dass diese Sorten offensichtlich so unpopulär sind, kann man nicht ausschließlich damit erklären, dass Konzerne ihre Macht um Abhängigkeitsverhältnisse ausspielen. Ich vermute, dass aus der Sicht des Landwirts zu wenig gegen die zahlreichen Hybridsorten spricht und traditionelle Sorten einfach unökonomisch sind, aus welchen Gründen auch immer. Denn die Einstellung auf "Bodengegebenheiten", eine "planbare Erntezeit, bestmöglicher Geschmack sowie wertvolle Inhaltstoffe, und, nicht zuletzt, ein ansprechendes Aussehen" sind nicht etwa Alleinstellungsmerkmal von konventionellem "Bio-Saatgut", damit wird in der Regel Hybridsaatgut beworben.

Ich finde, die Situation ist durchaus komplexer, als es der tendenziöse Artikel darstellt. Etwas Differenzierung hätte ihm gut zu Gesicht gestanden. Warum also werden in dieser Art von Artikeln vor allem dumme Vorurteile bedient? Warum muss immer an "Natürlichkeit" und das Idyll der Landwirtschaft des vorletzten Jahrhunderts apelliert werden? Ganz einfach: um es dem Leser leicht zu machen und ihm den Bauch zu pinseln. Und weil "VielfaltErleben" ein Lobbyverein ist, der nicht anders kann.

[Hinweis: Heute vormittag habe ich mich gegenüber dem geschätzten Twitter-User \@entropie42 recht negativ über den Artikel geäußert. Hier kann ich aber viel besser erklären, was mich an dem Artikel gestört hat, als in dem 140-Zeichen-Medium. Dass ich nun wenig erklärt hab, und viel mehr gemeckert, ist nicht so schlimm, finde ich, denn ich fühle mich schon gleich viel besser.]

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