Welche Rolle spielt die Kernresonanzspektroskopie heute in der Forschung?

Neben der Röntgenkristallographie ist die Kernmagnetresonanz (Nuclear Magnetic Resonance, NMR) eine der Hauptmethoden, mit denen man hochaufgelöste 3D-Strukturen von Biomolekülen bestimmen kann. Ein Gespräch mit Kurt Wüthrich nach aktuellen Entwicklungen und Perspektiven für junge Wissenschaftler.

Kurt Wüthrich (Chemie-Nobelpreis 2002) hat bei seinem Vortrag zur 64. Nobelpreisträgertagung einen tapferen Versuch unternommen, dem Publikum mehrdimensionale NMR-Spektroskopie nahezubringen. Er hantiert mit einfachen quantenmechanischen Beschreibungen und unterschiedlichen Energieniveaus. NMR ist kein einfaches Thema, das ist dem Publikum spätestens jetzt klar.

NMR beruht auf dem Phänomen, dass Atomkerne schwache magnetische Eigenschaften besitzen. Sie nehmen deshalb elektromagnetische Radiowellen einer bestimmten Frequenz auf, absorbieren diese. Die jeweilige Frequenz, bei der das der Fall ist, die sogenannte Resonanz-Frequenz, hängt vor allem von der Art des Atomkerns ab, also etwa ob es sich um ein Wasserstoff- oder ein Kohlenstoffatom handelt. Daneben beeinflussen auch benachbarte Atome diese Frequenz, was die Sache für Chemiker und Biologen so interessant macht: Jedes Atom, das in einem bestimmten Verbund steht, sendet sein eigenes Radiosignal. So lassen sich Informationen über die direkte molekulare Nachbarschaft herauslesen, ohne diese vorher zu kennen.

In Kurt Wüthrichs Labor wurde eine Spezialform der NMR, die sogenannte NOESY-Methode entwickelt, mit der man zudem die Abstände zwischen Atomen messen kann. Erst dieser Typ von Experimenten macht die Bestimmung von dreidimensionalen Strukturen durch NMR möglich. Für die Berechnung komplexer Strukturen wie Proteine sind allerdings große Mengen an Material, viel Handarbeit und Rechenpower vonnöten. Dreidimensionale Molekülstrukturen lassen sich auch durch Röntgenanalysen von Kristallen errechnen. Die Daten können hier vollautomatisiert erfasst und ausgewertet werden. Doch Proteine im Kristall nehmen mitunter andere Formen an, als in ihrer natürlichen Umgebung – oder sie lassen gar nicht erst kristallisieren. Deshalb punktet die NOESY-Methode, wo Röntgenkristallographie versagt: man benötigt keine Proteinkristalle und kann Proteine in einer wässrigen Lösung untersuchen. Diese Umgebung ist sehr viel näher an physiologischen Bedingungen, als ein dicht gepackter Kristall.

Trotzdem scheint das goldene Zeitalter der NMR-Strukturen vorbei zu sein. Ich zeige Wüthrich eine Grafik von der Proteindatenbank (PDB), in die Forscher dreidimensionale Strukturen von Proteinen hineinfüttern. Die Grafik zeigt, dass seit inzwischen nur noch 500 NMR-Strukturen pro Jahr in die Datenbank wandern. Wüthrichs Miene verfinstert sich etwas und er verschränkt die Arme vor der Brust.

„Wie ich im Vortrag sagte, das ist alles small research, es gibt keine großen Projekte mehr“. Derzeit würde viel zu viel Geld in die Festkörper-NMR gepumpt, ein Verfahren, das seine Nützlichkeit seiner Meinung noch nicht unter Beweis gestellt habe. „Ich sage es so wie es ist, da nehme ich kein Blatt vor den Mund“. Das internationale Interesse sei nicht vorhanden, massenhaft NMR-Strukturen zu berechnen. Und das liegt am Geld? „Das liegt am Geld.“ Aus diesem Grund baut Wüthrich nach seinen zahlreichen anderen Laboren einen neuen Standort in China auf. „Weil es dort Geld gibt. Wir denken, dass wir dort Dinge tun können, die wir anderswo nicht tun können.“

Eine weitere Grafik aus der Proteindatenbank zeigt, dass die Kristallographen bei der reinen Menge der bestimmten Strukturen die Nase weit vorn haben. Röntgenkristallstrukturen machen mehr als 85 Prozent des PDB-Bestands aus. „Für jeden NMR-Spektroskopiker gibt es auf der Welt 100 Kristallographen“. Was will man da erwarten? Angesprochen auf ein spektakuläres Paper, bei dem man Nanokristalle in Bakterien gezüchtet hat, um komplette Zellen anschließend durch einen Röntgenlaser zu schießen, runzelt er die Stirn. „Überlegen Sie mal, wie viel Geld da hinein geflossen ist. Darüber will ich gar nicht nachdenken“. Ich gebe zu, dass ich immer behaupte, mit großen und teuren Maschinen zu arbeiten (siehe Bild unten). Die Kristallographen arbeiten dagegen mit Teilchenbeschleunigern, die gut und gerne mehrere hundert Meter Umfang haben.

Sowieso seien reine 3D-Strukturen nur ein Teil der biologischen NMR-Forschung. Er spricht mich auf mein Forschungsthema an: die NMR-gestützte Modellierung von Bewegungen einer Gruppe von Immunproteinen. Die Ergebnisse meiner Forschung wandern natürlich nicht in die PDB, es sind ja keine Strukturdaten. NMR glänzt ja gerade im Bereich der dynamischen Analyse oder in Bindungsstudien, Kristallographen haben hier oft das Nachsehen.

Auch die Industrie sei weniger an 3D-Strukturen interessiert, sondern an Struktur-Funktions-Beziehungen. So werden erfolgreich im großen Maßstab Substanzen auf Bindungen getestet. Die große Wende für die Pharmaindustrie blieb trotz der Forschritte der Strukturbiologie aus. Einige Wirkstoffentwicklungen gäbe es aber doch, die zum Erfolg geführt hätten. Wüthrich kooperiert selbst mit dem Pharmariesen Novartis und sagt: „Wir haben eine Substanz in klinischen Tests, die wir auch mit Hilfe von NMR entwickelt haben“. Das Thema sei für den Pharmasektor noch nicht gegessen. Erst kürzlich sei einer seiner besten Leute von Pfizer abgeworben worden.

Zum Abschluss wenden wir uns noch dem Thema Karriere zu. Wie viel Zeit darf sich ein Doktorand für seine Doktorarbeit nehmen? Wüthrich verschränkt nun die Hände hintern dem Kopf und überlegt lange. „Das ist eine heikle Frage. Wissen Sie, ich habe nach 14 Monaten meine Dissertation fertig gehabt. Gerhard Wagner hat sieben Jahre gebraucht. Heute arbeitet er in Harvard und hat mehr als fünfzig Paper in Nature und Science“. Gerhard Wagner ist eine weitere Größe in der NMR-Welt und hat bei Wüthrich seinen Doktor gemacht. Die benötigte Zeit für eine erfolgreiche Ausbildung ist eben hochindividuell. Wüthrich kritisiert die „Formalisierung“ der Studiengänge durch die Bologna-Reform. Hier müssen die Studenten Punkte sammeln und die Anwesenheit in Vorlesungen und Seminaren wird erfasst. „Als ich Sport studiert habe, wurde es mir zu langweilig und ich habe nebenbei eine Dissertation angefangen“ – heute undenkbar.

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