Manchmal habe ich den Eindruck, je dümmer eine Verschwörungstheorie, desto erfolgreicher ist sie. So ist es auch mit dem Artikel „Zahnpasta -- Zerstörung und Vergiftung auf Raten" der gerade bei Facebook hoch- und runter gereicht wird und angeblich schon mehr als 1,7 Millionen Hits hatte. Hier wird einem ernsthaft erklärt, dass wir uns seit Jahrzehnten mit dem Fluorid in der Zahnpasta systematisch vergiften lassen.

teebeutel.jpg Teebeutel der Erkenntnis

Misstrauisch sollte man schon beim Anblick des Titelbanners werden. Die Seite wirbt damit, im Besitz der Wahrheit zu sein und ist damit der großen Gruppe der Truther-Seiten zuzuordnen. Die Wahrheitsträger-Szene weiß ganz genau, dass Klimawandel, Energiesparlampen, Schweinegrippe, Impfungen, AIDS/HIV und der 9/11-Anschlag samt und sonders Lügen und Schwindel sind, und die Bevölkerung in Schach zu halten und auszubeuten. Medien, Industrie, Politik und Wissenschaft sind alle korrupt und gehörten einer großen Verschwörung an. Nur die selbsterklärten Experten durchschauen das alles, und natürlich brauchen sie dafür nicht mehr als den gesunden Menschenverstand, der dem Rest der Bevölkerung abhanden gekommen ist.

Diese in der Regel recht schlichten Geister ignorieren dabei etwas ganz Wesentliches: Der gesunde Menschenverstand hilft einem beim Erkennen der „Wahrheit" herzlich wenig. Nicht ohne Grund kennt die Wissenschaft keine Wahrheit. Wir können uns ihr nur immer weiter annähern, ohne je zu wissen, wie nah wir wirklich dran sind. Und so läuft es im echten, harten Leben darauf hinaus, Indizien und Theorien gegeneinander abzuwägen, Belege zu sammeln, Hypothesen aufzustellen und zu widerlegen. So viel Komplexität ist einem Fluorid-Truther nicht zuzumuten.

Im Besitz der absoluten Wahrheit lässt sich behaupten, Fluorid sei für so ziemlich jede Zivilisationskrankheit der westlichen Welt verantwortlich. Es macht nicht nur Löcher in die Zähne, nein, es schädigt auch das Nervensystem, DNA und DNA-Reperaturmechanismen, ist verantwortlich für Krebs, Osteoporose, Herz-Kreislauf-Krankheiten und alles mögliche andere. Es bricht auch den Willen, weshalb es die Nazis (!) eingesetzt hätten.

Das nennt man einfach „erwiesene Fakten", belegt aber nichts. Es genügt der Verweis auf die Verschwörung aus Zahnärzten und Pharmaindustrie. Mit ein wenig Glück werden einem Youtube-Videos, andere Truther-Seiten oder eine Handvoll Zitate von Doktoren an den Kopf geworfen, um Eindruck zu schinden. Diese Doktoren sind wohl ausnahmsweise nicht vom Pharmakartell gekauft! Kritiker stellt man dagegen schnell in die Pharma-Ecke, und im Hinblick meinem derzeitigen Arbeitsort, der „Pharmakologie" im Namen trägt, müsste ich wahrscheinlich auch nicht lange warten, bis mir Pharma-Gehirnwäsche unterstellt wird. (Nachtrag: Natürlich hat der Vorwurf ein „Propagandalügner der Industrie" zu sein, nicht lange auf sich warten lassen.)

Dieses ganze Autoritäts-Getue hat in Wirklichkeit wenig Gewicht, denn wenn es um Erkenntnis geht, gibt es keine Autoritäten, die Wahrheiten diktieren, höchstens Experten, die sich mit einem Thema besonders gut auskennen. Möchte man mehr über ein wissenschaftliches Thema lernen, lohnt es sich, die wissenschaftliche Literatur dazu anzusehen, in der sich professionelle Experten miteinander austauschen. Es gibt eine sehr solide Studienbasis zur Effektivität von fluoridierten Zahncremes. Zähne putzen mit fluoridierter Zahncreme verhindert Karies besser als das Putzen mit unfluoridierter Paste. Es gibt auch mehr als nur eine Handvoll Studien, die belegen, dass die kontroverse Fluoridierung von Trinkwasser einen gewissen positiven Effekt hat. In der Tat existiert in Fachkreisen die Diskussion über die Qualität dieser Studien, die Größe des Schutzeffektes und ob es ethisch vertretbar ist, ganze Bevölkerungen unter Zwangsmedikation zu stellen. Zur Fluoridierung von Zahncreme gibt es keine solche Fachkontroverse, immerhin wird Zahncreme nicht regelmäßig gegessen und die starken positiven Effekte überwiegen gegenüber den Risiken. Zahncreme sollte man nicht essen. Besonders Kinder sollte man unbedingt davon abhalten, sich das Zeug tubenweise zuzuführen.

Über Nahrungsmittel und Trinkwasser nimmt man nur geringe Mengen dieses nicht-essentiellen Spurenelements auf. Bestimmte Lebensmittel haben aber erhöhte Fluorid-Gehalte, wie etwa Schwarztee. Eine Tasse Tee enthält locker 800 Mikrogramm Fluorid, billige Sorten auch gern etwas mehr. Sofern man eine handelsübliche Erwachsenen-Zahnpasta verwendet, putzt man sich mit dieser Menge Fluorid täglich die Zähne^[1]^. Mit dem kleinen Unterschied, dass man die zwei Zahnpastaportionen nicht verspeist. Dieser Vergleich soll das Teetrinken nicht verteufeln, und das Zähneputzen nicht verharmlosen. Die Flourid-Zufuhr sollte begrenzt werden, das bedeutet konkret, nicht zu viel Tee zu trinken und Zahnpasta nicht löffelweise zu schlucken.

Dass der Autor nun nicht vor den realen Gesundheitsgefahren des übermäßigen Schwarzteekonsums warnt, liegt vermutlich an seinem Aberglauben, „Chemie" und „Natur" würden sich gegeneinander ausschließen. Chemie-Fluorid ist identisch mit Natur-Fluorid, da gibt es keinen Unterschied. Hundertprozentig natürliches Kochsalz stellt mit Schnecken grausame Dinge an, und das Flourid in Rattengift lässt die Nager jämmerlich verenden. Wie immer macht die Dosis das Gift.

Mit der Botschaft, man würde seine Kinder systematisch Rattengift aussetzen, lässt sich über Blogs und Facebook-Posts Angst und Schrecken verbreiten. Der Dosiseffekt spielt keine Rolle, er verkompliziert nur. Das gleiche gilt für das anstrengende Abwägen von Nutzen und Risiko. Wenn man dazu Vorurteile gegenüber der korrupten Pharmaindustrie, Politik und Wissenschaft bedient, ist einem der Erfolg sicher.

Wären wir in den USA, wo das Trinkwasser regelmäßig fluoridiert wird, könnte ich eine gewisse Opposition ja noch nachvollziehen. Hierzulande muss man gegen Zahnpasta und fluoridhaltiges Salz hetzen, bescheuerter geht es eigentlich kaum.

Das Internet gibt selbsternannten „Experten", die zehntausende Lebensstunden mit dem Studium ihrer „Wahrheiten" verschwendet haben, eine nie dagewesene Öffentlichkeit. Es gibt auch denen, die diese Wahrheiten nicht einfach schlucken wollen, potentiell eine ebenso große Bühne. Der Erfolg von Botschaften, die über ein bloßes Krakeelen hinausgehen, ist natürlich ungleich kleiner, weshalb ich hier ganz sicher nicht mit 1,7 Millionen Klicks rechnen muss.

Für Derrick.


^[1]^: Eine typische Tasse (250 mL) typischen Schwarztees enthält laut Wolfram Alpha 805 µg Fluorid. Zahnpasta für Erwachsene enthält zwischen 1000-1400 ppm (1-1,4 Tausendstel) Fluorid, bei 0.5 g je Anwendung entspricht das 500-700 µg Fluorid.

9.2.2014, 20:00 Uhr: Der Text wurde geändert, um zu verdeutlichen, wozu das Rechenbeispiel mit dem Schwarztee dienen sollte: Zur Relativierung der Fluorid-Mengen, die in Zahnpasta enthalten sind. Die Cochrane-Studie zur Wirksamkeit von fluoridierten Zahncremes wurde verlinkt.

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